Praxisorientierte Beratung bei Behindertentestamenten
Die Rechtsprechung erkennt die Wirksamkeit von Behindertentestamenten grundsätzlich an. Behindertentestamente sind mit typischen Gestaltungsvarianten (Stichworte: Vor- und Nacherbschaft, Dauertestamentsvollstreckung, Pflichtteilsreduzierung) verknüpft. Es wäre aber ein Fehler, eine rechtliche Beratung hierauf zu beschränken. Die Praxis zeigt, dass sowohl aus Sicht der Rechtsberatung, als auch von Seiten der testierenden Elterngeneration zentrale Aspekte einer ganzheitlichen Regelung übersehen werden. Dies zeigen nachfolgende Hinweise, die der Autor auf einen standardisierten Praxisfall bezieht.
Praxisfall: Die Eltern Thomas und Kathi sind beide 65 Jahre alt und haben zwei erwachsene Kinder, die verheiratete Tochter Sylvie mit einem minderjährigen Sohn, und den erwachsenen Sohn Gustav, der kinderlos und unverheiratet ist und an einer geistigen Behinderung leidet und in einer Behinderteneinrichtung lebt und arbeitet.
Hinweis 1: offener Blick auf die Motivlage
In der vorliegenden Konstellation schildern Eltern als Motivation für ein Testament häufig, dass das behinderte Kind einerseits wirtschaftlich abgesichert sein soll, andererseits Vermögen im Erbfall dem Zugriff des Sozialhilfeträgers entzogen bleiben muss. Der vorliegende Praxisfall enthält aber typischerweise weitere Motive, deren Entdeckung ein starrer Blick auf das Behindertentestament verhindert. Ein bedeutsames Motiv ist zumeist, dass der überlebende Ehegatte rechtlich und wirtschaftlich abgesichert sein soll. Ein weiteres Motiv kann sein, dass bestimmte Vermögenswerte dem Schwerpunkt nach an die Tochter oder gar das Enkelkind gehen sollen. Auch schenkungs- und erbschaftssteuerliche Motive sind zu beachten. Diese sind bei Gestaltung des Behindertentestaments im Rahmen einer Abwägung in Einklang zu bringen.
Hinweis 2: Absicherung der Eheleute zu Lebzeiten und im Erbfall
Hierzu gehört insbesondere, dass die Eheleute sich selbst absichern. Dies gilt einerseits für ihre Situation zu Lebzeiten. Jeder Beteiligte sollte eine Vorsorgevollmacht gestalten lassen, also die Eltern, die Tochter und für den Fall, dass der Sohn geschäftsfähig ist, auch dieser. Besonders bedeutsam ist die Absicherungserwägung, wenn ein Elternteil bereits verstorben ist. In diesem Fall enthält zwar das Behindertentestament zumeist die Regelung, dass der überlebende Ehegatte die Auseinandersetzungstestamentsvollstreckung erhält, um alleine entscheidungsbefugt zu sein. Allerdings wird der Fall zumeist übersehen, dass der überlebende Ehegatte selbst betreuungsbedürftig, respektive geschäftsunfähig wird und sein Amt nicht mehr ausüben kann. Es sollte von Anfang an testamentarisch der Fall einer gestaffelten Ersatztestamentsvollstreckung geregelt sein.
Hinweis 3: Absicherung des gesunden Kindes
Ebenfalls zu kurz kommen meistens Überlegungen zugunsten des gesunden Kindes. Dieses erhält zwar vielfach die Aufgabe der Dauertestamentsvollstreckung im Rahmen der Vorerbenstellung des behinderten Bruders. Allerdings beschränkt das Amt des Testamentsvollstreckers die Entscheidungskompetenz über den Nachlass jedenfalls teilweise. Sinnvoll kann sein, dass der Tochter vorliegend beispielsweise mittels Vermächtnisanordnungen konkrete Nachlassbestandteile zugewiesen sind, damit diese hierüber nicht innerhalb einer Erbengemeinschaft gebunden ist und insoweit frei verfügen kann. Dies ist beispielsweise in Bezug auf eine einzelne Immobilie interessant, in deren Vermietung oder Veräußerung die Tochter unbeschränkt ist. Hierzu gehört auch die Überlegung, dem minderjährigen Enkelkind ebenfalls bereits Vermögen testamentarisch zuzusprechen, beispielsweise im Rahmen einer weiteren Vermächtnisanordnung. Dies kann insbesondere erbschaftssteuerlich mit Blick auf den Freibetrag von € 200.000,00 pro Großelternteil interessant sein, muss aber mit einer Dauertestamentsvollstreckung durch die Eltern des Enkelkindes verknüpft werden, um eine Ergänzungspflegschaft zu vermeiden.
Hinweis 4: Absicherung des behinderten Kindes
Sicherlich enthält ein Behindertentestament insoweit die typischen Regelungen, die in der Literatur und Rechtsprechung vorgeschlagen werden, also die Anordnung einer Vor- und Nacherbschaft im ersten und zweiten Erbfall mit einer Quote die jeweils über dem Pflichtteil liegt, kombiniert mit einer Dauertestamentsvollstreckung durch den überlebenden Elternteil bzw. das gesunde Geschwisterteil. Empfehlenswert ist ein am Einzelfall orientierter Abgleich mit der Möglichkeit einer Vorsorgevollmacht oder jedenfalls einer Betreuungsverfügung, um die rechtliche Vertretung des behinderten Kindes langfristig abzusichern.
Hinweis 5: Steuerliche Gestaltung
Bei größeren Vermögenswerten sollten steuerliche Gestaltungsüberlegungen in die Rechtsberatung mit aufgenommen werden. Hierzu gehört einerseits die Option, dass Eltern zu Lebzeiten im 10-Jahreszyklus nach § 14 ErbStG Vermögen schenkweise an die Tochter und das Enkelkind verschenken, andererseits aber auch, dass testamentarisch darauf geachtet wird, die Freibeträge für Tochter und Enkelkind auch im ersten Erbfall zu nutzen. Dies ist beispielsweise im Rahmen eines Vermächtnisses möglich, das für Tochter und ggf. Enkelkind angeordnet werden kann. Insbesondere für den zweiten Erbfall kann es bedeutsam sein, das vom letztversterbenden Elternteil noch bewohnte Elternteil konkret der gesunden Tochter zuzuweisen, um die Steuerbefreiung des Familienheims zu nutzen.
Hinweis 6: Pflichtteilsansprüche reduzieren und regeln
Zielsetzung eines Behindertentestaments ist es, zu verhindern, dass das behinderte Kind bzw. für das behinderte Kind die Erbschaft ausgeschlagen und der Pflichtteil geltend gemacht wird. Für diese Zielsetzung gibt es flankierende Maßnahmen. Primär ist an die Möglichkeit einer Schenkung der Eltern zu Gunsten der gesunden Tochter zu denken, die mit Blick auf die 10-Jahresfrist des § 2325 BGB Pflichtteils(ergänzungs)ansprüche des behinderten Sohnes dauerhaft verringern kann. Dies setzt aber voraus, dass sich die Eltern keine wirtschaftlich starke Rechtsposition zurückbehalten (Stichworte Nießbrauch und Wohnrecht). Ist das behinderte Kind, hier im Praxisfall der erwachsene Sohn zwar betreuungsbedürftig, aber noch geschäftsfähig, so kommt sogar ein notarieller Pflichtteilsverzicht in Betracht, der dann einen gänzlich neuen Ansatz für eine Testamentsgestaltung ermöglicht. Im Einzelfall ist zu prüfen, ob ein solcher Pflichtteilsverzicht wirksam sein kann oder als sittenwidrig anzusehen ist. Empfehlenswert kann für den Fall, dass das Einfordern eines Pflichtteils konkret droht, sein, jedenfalls testamentarisch eine Pflichtteilsvollstreckung nach § 2338 BGB anzuordnen, um einen sofortigen Verbrauch des Pflichtteils zu verhindern.
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